64. Thüringischer Archivtag 2022

Bericht über den 64. Thüringischen Archivtag am 29./30. Juni 2022 in Schmalkalden

von Dr. Jens-Jörg Riederer

Aus allseits bekannten Gründen waren vier Anläufe nötig, um den 64. Thüringischen Archivtag am 29. und 30. Juni 2022 endlich durchführen zu können. Doch dann passte im schönen Schmalkalden alles zusammen: Der richtige Sommertermin war gewählt und mit dem „Riesensaal“ in Schloss Wilhelmsburg einer der größten historischen Räume in Thüringen gemietet. Vor allem passte auch das Thema, wie nicht nur die Anmeldung von über 90 Archivarinnen und Archivaren belegt, sondern auch der Verlauf des Archivtages selbst. Wohl noch nie zuvor durften wir einen so anregenden und diskussionsfreudigen Archivtag erleben. Dabei konnte das Thema – Archive in der Digitalgesellschaft - Initiativen und Perspektiven für Thüringen – kaum anspruchsvoller sein.

Eröffnet wurde die Fachtagung zum Schwerpunkt elektronische Langzeitarchivierung (LZA) mit Beiträgen aus unseren Nachbarländern Sachsen und Sachsen-Anhalt, die Thüringen weit voraus sind.  Frau Britta Günther vom Stadtarchiv Chemnitz und Herr Daniel Piskol von der Sächsischen Anstalt für kommunale Datenverarbeitung (SAKD) schilderten die Einführung der Elektronischen LZA in Sachsen. Die Initiative dazu war zwar 2009 von den sächsischen Staatsarchiven ausgegangen, doch 2016 gestoppt worden, weil das Innenministerium rechtliche Bedenken gegen eine einheitliche Landeslösung von Staat und Kommunen hegte. Nunmehr auf sich allein gestellt, gelang die Gestaltung eines eigenen elektronischen Kommunalarchivs Sachsens (elKA) nur, weil man auf bestehende Strukturen wie die SAKD und eine Arbeitsgruppe Elektronische Archivierung beim Sächsischen Städte- und Gemeindetag zurückgreifen konnte. Nach erfolgreichem Aufbau in nur vier Jahren befindet sich elKA seit Januar 2022 in der Benutzungsphase. Technisch beruht es auf DIMAG, dem seit 2006 von einer länderübergreifenden Gemeinschaft entwickelten und mit Abstand am weitesten verbreiteten Form eines Digitalen Magazins. Früh wussten alle am Pilotprojekt mit über 700 Fachverfahren beteiligten 14 Kommunen um die Einführungskosten, die für je 50.000 Einwohner mit 8.700 € veranschlagt waren, also durchaus überschaubar, und die mit wachsender Teilnehmerzahl sogar sinken werden. Dafür erstellt eine mit vier Stellen besetzte Leitstelle in Leipzig auf Antrag ein Fachkonzept und übernimmt die Anleitung und Fortentwicklung.

Mit DIMAG arbeitet auch die Stadt Halle für mittlerweile 143 Fachverfahren und 48 digitale Ablagen. Betreut wird es von Frau Christiane Hoene, die seit 2021 eine eigens dafür im Stadtarchiv geschaffene Stelle innehat. In Sachsen-Anhalt besteht seit 2019 eine enge Magazinpartnerschaft zwischen dem Landesarchiv und den Kommunalarchiven, die unter Nutzung des staatlichen Anforderungskatalogs per Vertragsformular für Einmalkosten von ca. 3.000 € beitreten können und damit zugleich Mitglied im Verbund Digitale Archivierung Nord (DAN) werden. Die Folgekosten für den gemeinschaftlich genutzten Server werden anteilig geteilt, die für den jeweiligen Speicherplatz individuell getragen. Hoene betonte den großen Aufwand sowohl im Vorfeld der Einführung als auch beim Betrieb der elektronischen LZA, der sich z. B. in monatlichen Videokonferenzen und wöchentlichen Telefonaten mit IT-Fachleuten ihrer Stadtverwaltung niederschlägt. Es bedarf also in jedem Falle einer Vollzeitstelle, um die enormen Herausforderungen technisch und organisatorisch zu bewältigen.   

Es folgte Herr Michael Blosfeld vom Stadtarchiv Magdeburg und damit ein weiterer Vortrag über eine sachsen-anhaltinische Kommune. Als Informationswissenschaftler votierte Blosfeld ebenfalls für DIMAG, das gegenüber kommerziellen Lösungen günstiger ausfalle und überdies über ein Kostenkalkulationstool verfüge. Blosfeld stellte das Kernmodul zur Zwischenspeicherung und Endarchivierung, das Bewertungstool sowie das Archivische Fachinformationssystem (AFIS) vor, das der Recherche und Bereitstellung digitalen Archivguts dient. Auch er betonte die eminent wichtige organisatorische Vorbereitung des Datenexports, lange bevor die ersten E-Akten ins digitale Magazin importiert werden können. 

Nun war endlich Thüringen an der Reihe. Für die Universitäts- und Hochschularchive im Freistaat berichtete Frau Dr. Anja Kürbis, die Leiterin des Universitätsarchivs Ilmenau. Sie konstatierte einerseits einen geringen Grad fachlicher Professionalisierung auf der Leitungsebene der Hochschularchive Thüringens wie auch bei deren „Aktenlieferanten“, die als Fakultäten und Lehrstühle von jeher zu „Indvidualismus“ neigten. Seit 2019 beschäftigte sich eine eigens eingesetzte Arbeitsgruppe mit dem Problem der digitalen Archivierung. Da wiederholte Anfragen an den Freistaat Thüringen hinsichtlich der vom Landesarchiv seit 2012 entwickelten Archivsoftware ThELMA nicht zufriedenstellend oder gar nicht beantwortet wurden, entschieden die Präsidenten und Kanzler der Hochschuleinrichtungen im Jahr 2022, nicht länger abzuwarten und sich ebenfalls dem weit verbreiteten DIMAG-Verbund anzuschließen. Der Vortrag von Kürbis brachte angestauten Unmut über die Informations- und Archivpolitik des Landes zum Ausdruck, den das Publikum unüberhörbar teilte. Die Kritik gipfelte in der berechtigten Frage, die man allerdings auch an die beiden kommunalen Spitzenverbände richten muss: Wie können Thüringens Archive bei elektronischen Unterlagen auf ihre gesetzliche Anbietungspflicht bestehen, wenn sie zu deren Archivierung technisch gar nicht in der Lage sind?

Folgerichtig stellte im Anschluss der indirekt angesprochene Jörg Filthaut, Referatsleiter am Landesarchiv Thüringen- Hauptstaatsarchiv Weimar, das Thüringer Elektronische Magazin (TELMA) vor, für dessen Entwicklung er seit nunmehr zehn Jahren als Projektmanager verantwortlich zeichnet. In seinem mit Spannung erwarteten Vortrag zeigte Filthaut eine ganze Reihe von Masken, mit denen sich ThELMA künftig am PC der Archivare und Archivarinnen präsentiert. So konnte man den Eindruck eines überaus bedienungsfreundlichen Systems gewinnen, das mit vielfältigen Hilfsvorlagen und Kontrollmöglichkeiten, z.B. für die Vollständigkeit der Anbietung, notwendige Archivierungs- bzw. Kassationsvermerke, selbst den technisch weniger Versierten übersichtlich anleitet. Auch nichtstaatliches elektronisches Archivgut, wie Nachlässe, und sogar Hybrid-Akten kann ThELMA aufnehmen. Filthaut konstatierte „technisch sind wir durch“, es bedarf nur noch der Klärung einiger rechtlicher Fragen, so dass eine Inbetriebnahme um die Jahreswende 2022/23 möglich sei. Überdies sei ThELMA mandantenfähig und datenbankunabhängig. In direkter Reaktion auf Fragen aus dem Publikum, ob eine Mitnutzung durch die Kommunalarchive vorgesehen sei, ergriff Frau Christina Halwas, Referatsleiterin in der Kulturabteilung der Thüringer Staatskanzlei (TSK) und ausgebildete Archivarin, das Wort und betonte, dass ThELMA von Beginn an allein für das Landesarchiv entwickelt worden sei und der ressortübergreifende Lenkungsausschuss über eine eventuelle Öffnung auch für nichtstaatliche Mandanten noch nicht entschieden habe. Nachdem zuvor die ebenfalls angereiste Staatsekretärin für Kultur in der TSK Frau Tina Beer in ihrem sehr freundlichen Grußwort sich ebenfalls nicht, wie von vielen erhofft, dazu geäußert hatte, steht zu befürchten, dass keines der nichtstaatlichen Archive länger auf diese Entscheidung wird warten wollen und können, obgleich andererseits der Beauftragte des Freistaats Thüringen für E-Government und IT Herr Dr. Hartmut Schubert, Staatssekretär im Finanzministerium, gegenüber dem Gemeinde- und Städtebund sowie Landkreistag am 8. April d. J. eine landeseinheitliche Lösung, die nur ThELMA heißen kann, befürwortet hat. 

Den zweiten Tagungstag eröffneten die ebenfalls diskussionsfreudigen Mitgliederversammlungen der AG der Kommunalarchive sowie des Landesverbandes im VdA.  Zu letzterer gehörte eine Neuwahl des Vorstandes, die nach einigen Abgängen aus privaten Gründen zu einer erfreulichen Verjüngung führte. Als neue Mitglieder wurden gewählt die oben erwähnte Frau Dr. Anja Kürbis, Frau Dr. Antje Schloms (Referentin für Stadtgeschichte im Stadtarchiv Mühlhausen) und Herr Martin Gretscher (Leiter des Kreisarchivs Saalfeld-Rudolstadt). Der neue Vorstand präsentiert sich in Bälde auf der Homepage des VdA.

Es folgte Frau Dr. Katja Deinhardt vom Landesarchiv Thüringen-Hauptstaatsarchiv Weimar mit ihrem Vortrag über die Digitalisierung analogen Archivguts mit dem Ziel der Bestandssicherung wie auch der online-Nutzung. Deinhardt betonte die Bedeutung einer gezielten Digitalisierungsstrategie und stellte die langfristig zu planenden Abläufe sowie die unerlässlichen technischen Standards und das unverzichtbare Qualitätsmanagement namentlich der Dateiformate vor.

Den Abschluss bildete eine publikumsoffene Podiumsdiskussion, in der die oben angesprochenen Fragen hinsichtlich ThELMA noch einmal aufflammten. Frau Constanze Mann, Leiterin des Stadtarchivs Jena und Vorsitzende der AG der Kommunalarchive, verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass, falls einzelne Kommunalarchive nicht in die Lage versetzt würden, ihre E-Akten zu archivieren, diese per Thüringer Archivgesetz (§ 4) gegen Kostenerstattung an das Landesarchiv fielen. Eine Ertüchtigungshilfe zur elektronischen LZA ist die zentrale Aufgabe einer Archivberatungsstelle, wie sie ebenfalls im nun nicht mehr ganz neuen Archivgesetz von 2018 (§ 7) verankert ist und deren Einrichtung nachdrücklich gefordert wurde. Herr Blosfeld (Stadtarchiv Magdeburg) gab den wichtigen Hinweis, dass jedes Archiv mit seinen Vorbereitungen unbedingt beginnen sollte, auch wenn die später dafür zum Einsatz kommende Magazin-Software noch nicht feststehe. Als ein weiteres brennendes Problem kam der akute Mangel an Nachwuchskräften zur Sprache. Die Schulleiterin des Staatlichen Berufsschulzentrums Kyffhäuserkreis mit Sitz in Sondershausen Frau Carmen Lederer, die extra angereist war, bat um Unterstützung bei der nach 20 Jahren längst überfälligen Reform der FAMI-Ausbildung, für die bereits erste Schritte unternommen wurden. Dringend gefragt sind Archivare und Archivarinnen, die als Lehrkräfte in Sondershausen und in ihren Archiven vor Ort helfen, die Archivausbildung moderner und praxisnäher zu gestalten. Erfreulich war die Mitteilung von Herrn Thomas Wagner, dem Leiter des Landesarchivs, dass der Freistaat die Ausbildung von Archivreferendaren wohl im kommenden Jahr wieder aufnimmt.         

Der ebenso anregende wie aufregende 64. Thüringische Archivtag führte zu einigen grundlegenden Einsichten, die es künftig zu beachten gilt. Der Übergang zur elektronischen LZA, bei dem Thüringen gegenüber anderen Bundesländern weit zurückliegt, ist technisch so anspruchsvoll, finanziell so aufwändig und organisatorisch so herausfordernd, dass er nur im Verbund mehrerer Archive gelingen kann. Dafür müssen, auch wenn es schwerfällt, eigens neue Stellen geschaffen werden, denn nebenher ist diese Herkulesaufgabe unmöglich zu bewältigen. Egal für welche Magazin-Software man sich letztlich entscheidet, die Vorbereitungen darauf sollten umgehend beginnen. 

Der großartigen Lokation in Schmalkalden entsprach eine hervorragende Organisation. Frau Ute Simon und ihren Kolleginnen Sandra Gedig und Stefanie Großkopf gebührt höchster Dank für ihr Engagement bei der Vorbereitung und Durchführung dieses 64. Thüringischen Archivtags in Schmalkalden, der sich in der Rückschau für unser Archivwesen als wegweisend erweisen könnte.